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Auf Arbeitssuche in Europa | Keine Begeisterung für die EU

Für uns ist Europa etwas Selbstverständliches, Alltägliches. Doch wie denken andere darüber? Unsere vierköpfige Forschungsgruppe hat sich für die Sichtweise von Arbeitssuchenden interessiert: Wie stehen sie zu Politik und Europa? Empfinden sie Distanz und Enttäuschung oder fühlen sie sich, im Gegenteil, angesprochen, sind interessiert, vielleicht gar begeistert? Wie informieren sie sich? Interessieren sie sich für die bevorstehenden Europawahlen und wie bereiten sie sich darauf vor? Wir haben Arbeitssuchende in verschiedenen europäischen Hauptstädten getroffen und nachgefragt.

Stockholm, 30. Mai 2018 – Unser erstes Interview weist gleich zwei Besonderheiten auf: Zum einen fand es weder in Frankreich noch in Deutschland statt, sondern in einem Drittstaat, nämlich Schweden, und zum anderen wurde es auf Englisch geführt. Die lokalen Codes sind andere als wir sie in unserem deutsch-französischem Umfeld kennen und die Funktionsweise der Jobcenter ist uns ebenso fremd wie die Mentalität. Dennoch kommt das Gespräch mühelos in Gang.

Monira, 31 Jahre, ist überrascht von unserer Frage nach Europa: „Die EU ist für mich eigentlich kein Thema. Ich interessiere mich aber für Spanien. Da habe ich Freunde, in Barcelona. Als es dort einen Anschlag gab [17.08.2017], war ich besorgt und habe über Facebook recherchiert, ob es ihnen gut geht.“

Berlin-Charlottenburg, 22. Juni 2018 – Das Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf wird über die Stationsdurchsage der U-Bahn angekündigt.

An der Station Mierendorffplatz in Berlin Charlottenburg | Foto: Deutsch-Französischer Zukunftsdialog 2018

“Man muss sich seine eigene Meinung bilden“, findet der etwa fünfzigjährige Sacha. Um sich zu informieren verfolgt er nicht nur nationale, sondern auch ausländische Medien, wie den US- Nachrichtensender CNN. Letztere, erzählt er uns, berichten mitunter über Themen, die Deutschland betreffen, aber von deutschen Medien nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. „Es gibt [in Deutschland] Dinge, die verschwiegen oder absichtlich vergessen werden“, sagt er und nennt als Beispiel die Einwanderungspolitik. Die Aufnahme gefährdeter Bevölkerungsgruppen hält er zwar für notwendig, aber die jugendlichen Migranten seien nicht in dem Maße „traumatisiert“, wie die Medien zu Unrecht behaupten würden. Dies zeigten nicht zuletzt die Vorkommnisse der Kölner Silvesternacht 2015/2016 [in der zahlreiche sexuelle Übergriffe auf Frauen, ausgeführt überwiegend durch junge Männer arabischer und nordafrikanischer Herkunft, registriert wurden und die in Deutschland eine hitzige öffentliche Debatte über männliche Migranten auslöste, Anm. d. Red.].

Ich boykottiere die Wahlen, denn in der Regel setzen die Politiker sowieso nur das um, wozu uns unsere EU-Mitgliedschaft verpflichtet, oder aber die während des Wahlkampfes gemachten Versprechen geraten sofort nach dem Wahlsieg in Vergessenheit – kurzum: Das Volk wird beschissen.

Sacha

Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck erzählt uns die etwa dreißigjährige Jenny, Politik sei „nicht [ihr] Ding“. Nachrichten „schnappe“ sie quasi nebenbei und eher zufällig „auf“ – größtenteils im Internet und ohne danach zu suchen. Auf die Frage, ob sie wählen gehe, antwortet sie nichtsdestotrotz mit einem entschiedenen Ja. Im Vorfeld von Wahlen konsultiere sie den Wahl-O-Mat, der ihr dabei helfe, ihre Entscheidung zu treffen. Was Europa betreffe, habe sie „nicht viel“ zu sagen.

Berliner Jobcenter im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf | Foto: Deutsch-Französischer Zukunftsdialog 2018

Berlin-Pankow, 22. Juni 2018 – Vor dem Jobcenter Pankow lässt uns der 27-jährige Alex an seiner Sicht auf Europa teilhaben. Er stammt gebürtig aus Italien, wo er als Haushaltskraft für Privatpersonen arbeitete. Nachdem er dort ab 2016 keine Anstellung mehr fand, ging er nach Deutschland. Hier arbeitete er als Aushilfe in Restaurants, bevor er für einige Monate im Gefängnis saß. Nach den Haftgründen haben wir ihn nicht gefragt, wohl aber, was ihn politisch interessiert: „Ich lese italienische Zeitungen online.“ Wir fragen nach, ob er nie deutsche Nachrichten schauen würde. „Doch, ab und zu“, räumt er ein. An Deutschland schätzt Alex, dass Arbeitssuchende finanziell und durch Beratung unterstützt werden. In Italien sei das nicht vorstellbar.

Berlin-Wedding, 23. Juni 2018 – Marc-André, Anfang 30, ausgebildeter Grafikdesigner, gibt an, gut über das aktuelle politische Geschehen informiert zu sein. Er ist politisch interessiert und liest verschiedene Online-Zeitungen, darunter auch einige internationale Publikationen. Für ihn „besteht das zentrale Problem des aktuellen politischen Diskurses im Bedeutungszuwachs populistischer Bewegungen“. Er ist der Ansicht, dass politische Akteure wie die AfD – oder im Ausland US-Präsident Donald Trump – durch das Hervorheben bestimmter Themen bewusst mit den Ängsten derjenigen Bürger spielen, die sich abgehängt fühlten, um so ihre Macht auszubauen. Auch die Wortwahl populistischer Bewegungen empfindet er als sehr wirklichkeitsfremd und betrachtet sie als Quelle der Verschärfung sozialer Spannungen; „Worte haben eine Bedeutung!“ bricht es schließlich geradezu aus ihm heraus.

Paris, 12. Arrondissement, 7. September 2018 – Zahlreiche Menschen – Männer und Frauen jeden Alters und Stils – strömen bereits am frühen Morgen zum Pôle Emploi, dem französischen Jobcenter, am Boulevard Diderot. Nach zwei gescheiterten Versuchen mit jemandem ins Gespräch zu kommen, mahnt Françoise, 51 Jahre: „Europa ist wichtig! Aber die sind realitätsfern.“ Sie bedauert, nicht mehr Ahnung zu haben und gibt zu, sie nehme sich nicht genügend Zeit, um sich über das Thema zu informieren. Ihr spärliches Wissen verdanke sie „vor allem den abendlichen Fernsehnachrichten und den Gratis-Zeitungen, die in der Pariser U-Bahn verteilt werden“. Bevor sie schließlich das Arbeitsamt betritt, lässt uns Françoise noch an ihrer Ratlosigkeit angesichts der politischen Wahlmöglichkeiten teilhaben: „Ich werde zur Wahl gehen, aber ich weiß noch nicht, wem ich meine Stimme geben soll. Und ganz ehrlich: Wird sich dadurch wirklich etwas ändern? »

Europa ist wichtig! Aber die sind realitätsfern.

Françoise

Sébastien, 24 Jahre und auf der Suche nach einem Job in der Gastronomie, sagt uns, er habe keine Zeit, die Nachrichten zu konsultieren: „Mit meinen verschobenen Arbeitszeiten ist das nicht so einfach.“ Auf unsere Nachfrage, ob man sich nicht dank sozialer Netzwerke und Internetseiten auch zeitversetzt informieren kann, entgegnet er: „Tatsächlich liegt es wohl daran, dass es mir ein bisschen egal ist, denke ich“. Dem jungen Mann genügt es, mit seinen Freunden oder Kollegen zu diskutieren und durch seinen Facebook-Newsfeed zu scrollen. Medien gäben nur eine Version der Wirklichkeit wieder, so Sébastien, sie zeigten einzelne Ereignisse in Endlosschleife, und erinnerten überwiegend daran, wie schlecht die Dinge stünden. Zu den Wahlen auf nationaler Ebene gehe er eigentlich nur deshalb, „weil [seine] Eltern es [ihm]so beigebracht haben“.

„Pôle emploi“ im 12. Arrondissement in Paris | Foto: Deutsch-Französischer Zukunftsdialog 2018

Brüssel, Stadtzentrum, 14. September 2018 – Eine Frau um die 50 beklagt, dass es vielen Printmedien, wie etwa der belgischen Tageszeitung Le Soir, an Quellen mangele: „Man sollte mehr Standpunkte einfließen lassen, es geht immer in die gleiche Richtung.“ „Ja, ich gehe wählen“, sagt sie in ernstem Ton, nur um gleich darauf festzustellen: „Für Europa interessiere ich mich allerdings nicht im Geringsten.“ Und schließlich erklärt sie noch: „Ehrlich gesagt ist mir das Ganze schleierhaft. Ich mag solche Massendinger nicht, dieses Formatierte.“

“Ja, wir gehen wählen, das ist unsere Pflicht“, antworten uns im Chor zwei Mittdreißiger, die wir in Brüssel befragen. Einer der beiden vermisst jedoch “große Reden“ und zweifelt an der Fähigkeit der Politiker, tatsächlich etwas zu ändern. „Ich finde, wir werden schlecht vertreten“, fügt er noch hinzu. „Die Medien geben uns nur die Informationen, die wir ihrer Meinung nach hören sollen.“ Und wie steht es mit Europa? Nach kurzem Zögern die Antwort: „Europa ist wichtig, das kann eine Stärke sein“. Gleichzeitig erinnert er aber auch daran, dass einige Mitgliedsländer derzeit über einen EU-Austritt nachdenken.

Eine algerischstämmige Frau in ihren Vierzigern ist der Meinung, dass „die Medien übertreiben, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen“ und vergleicht sie bereitwillig mit der Politik, die sie „nicht überzeugt“. Auch sie beruft sich dabei mehrfach auf häufig gebrochene Wahlversprechen.

Brüssel, Chaussée de Charleroi, 14. September 2018 – Fatima, eine Frau zwischen 60 und 70, findet, die Politik kümmere sich nicht genug um Umwelt- und Klimafragen. So sollten ihrer Ansicht nach z.B. die Maßnahmen zum Verbot von Plastiktüten intensiviert werden. Von den Medien hingegen fühlt sie sich über diese Probleme gut informiert; als ihre Hauptinformationsquelle nennt sie das marokkanische Fernsehen. Was Europa betrifft, zeigt sie sich sehr abweisend – „Die sollen den Mund halten!“: Die EU solle mehr tun und weniger reden. Sie kann jedoch nicht genau sagen, was sie von Europa erwartet.

Johan, ein junger Sportlehrer, der gerade im Begriff ist, eine neue Anstellung zu finden, informiert sich vor allem mittels lokaler Radiosender und über die sozialen Netzwerke. Er gibt an, sich durchaus für politische Themen zu interessieren, hat jedoch eine negative Auffassung von den politischen Entscheidungsträgern, insbesondere denen auf nationaler Ebene: „Die sind verlogen!“ Auch an der EU lässt er kaum ein gutes Haar. Sie habe mit Blick auf ihre Solidaritätspflicht versagt. Johan ist sein eigenes Land wichtiger als Europa und er erklärt uns, Menschen wie er würden „ihr Land lieben“.

Was wir bei unseren Gesprächen beobachtet haben

Unbekannten auf der Straße Fragen zu politischen Themen zu stellen, ist ein sensibles Unterfangen und birgt die Gefahr, auf Ablehnung zu stoßen oder ausweichende Antworten zu erhalten. Die Themen Medien, Politik und Europa bleiben häufig abstrakt. Fragen zu Medienkonsumgewohnheiten hingegen erweisen sich als leichter zugänglich und erleichtern uns den Gesprächseinstieg.  

Auch wenn die Mediennutzung an sich weit verbreitet ist, findet in den meisten Fällen keine aktive Recherche zu politischen Themen statt, die Befragten „empfangen“ in der Regel lediglich die Informationen, die sie über die Informationskanäle (Fernsehen, soziale Medien) erreichen. Es herrscht Misstrauen gegenüber den Nachrichten und der medialen Informationsaufbereitung. Diese Sichtweise ist sehr paradox, denn wir beobachten eine passive Erwartungshaltung gegenüber den Medien bei gleichzeitiger Verunglimpfung der von ihnen dargebotenen Inhalte.

Politik ist den Personen in unserer Untersuchung kein wichtiges Anliegen – die Befragten rechtfertigen ihr „Desinteresse“ mit Enttäuschung und Verdrossenheit angesichts nicht gehaltener Wahlversprechen.

Die Beteiligung an Wahlen wird hingegen von fünf Befragten als wichtig wahrgenommen, während nur ein Interviewpartner angibt, die Wahlen bewusst zu boykottieren.

Für uns ist das Thema „Europa“ alltäglich und wir suchen im Freundeskreis den Austausch über aktuelle Begebenheiten und, mehr noch, über Zukunftsfragen der Europäischen Union.

Im Zuge unserer Befragungen konnten wir feststellen, dass Europa weder ein Thema ist, auf das man spontan zu sprechen kommt, noch eines, das Begeisterung hervorruft. Zwei unserer Gesprächspartner nehmen Europa vor allem als einschränkend und unübersichtlich wahr, ein dritter hingegen zählt die Vorteile der EU auf (Einheitswährung, Erasmus).

Europa war für unsere Befragten immer dort ein Thema, wo es mit ihrer persönlichen Situation zusammentraf. Diese war geprägt von Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche, oder zumindest der Notwendigkeit, sich vom Sozialsystem erfassen zu lassen. Vier von sechs Befragten kamen rasch auf das Thema Geflüchtete zu sprechen und darauf, wie Regierende in „ihren“ Ländern mit Migrant*innen umgehen – im Vergleich zum Umgang mit Arbeitslosen.  

Zu guter Letzt konnten wir in der Mehrzahl der Gespräche ein Interesse für Umweltfragen und eine damit verbundene Sensibilisierung feststellen. Unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft fühlte sich die Mehrzahl der Befragten von Umweltthemen betroffen. Dieses Ergebnis hatten wir so nicht erwartet.

Dieser Beitrag ist im Rahmen des Projektjahres 2018 entstanden. Um die Gründe für den wachsenden Vertrauensverlust vieler europäischer Bürger in die Politik besser zu verstehen, verwirklichten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in deutsch-französischen Arbeitsgruppen eigene Projekte. So kamen sie mit ganz unterschiedlichen Personengruppen ins Gespräch über Demokratie und Europa.